Die Erfahrung des Todes ist erschütternd, denn sie stellt unser ganzes Leben in Frage. Solange wir leben wird der Tod uns fremd sein, selbst wenn wir uns verdeutlichen, dass er etwas ganz normales ist. Alles was lebt wird ihn erfahren– ausnahmslos. Wir selbst erfahren den Tod, wenn wir gestorben sind – was auch immer das bedeuten mag und ob es da noch was zu erfahren gibt. Aus meiner Sicht beginnt das Sterben vor dem Herzstillstand und endet nicht mit ihm. Zumindest auf körperlicher Ebene gibt es noch Zellaktivität bis 48 Stunden nach dem Ende der Sauerstoffversorgung durch den Blutkreislauf. In diesen ersten Stunden und Tagen ist der Verstorbene völlig schutzlos und dem ausgeliefert, was andere tun. Begleitung heißt hier möglichst wenig direkt einzugreifen und darauf hinzuwirken, dass die äußeren Umstände möglichst friedvoll gestaltet werden. Den Tod Anderer erfahren wir als Verlust, der unsere Beziehung zu dem Verstorbenen verändert. Verlusterfahrungen werden meist schmerzhaft erlebt. Der Tod ist eine Zumutung, der man sich eigentlich nicht aussetzen möchte. So wird sprachlich der Verstorbene zur Leiche, die wir in Kühlräume verbannen. So können wir die reale Erfahrung vom tot sein Anderer umgehen. Es bleibt aber die Frage: Ist er wirklich tot? Liegt sie wirklich in diesem Sarg? Ist die Asche in der Urne wirklich die von meiner Mutter? Sich selbst davon zu überzeugen, den verstorbenen Menschen noch einmal tot im Sarg liegen zu sehen, ihn zu berühren, zu spüren, dass er oder sie ganz kalt ist und tot aussieht, hilft anzuerkennen was geschehen ist. Dass dieser Mensch tatsächlich gestorben ist und nie wieder so sein wird wie vorher. Wenn ich dies nicht nur als Information zu Verfügung habe, sondern mit meinen Sinnen erfahre, ist dies eine enorme Hilfe für das Weiterleben, auch wenn die Konfrontation mit dem Tod und seiner Realität selbst, Angst besetzt ist. Wie sieht er aus? Kann ich mit diesem Bild im Kopf weiterleben? Sollte ich nicht besser bei meinen schönen Erinnerungen bleiben? Vielleicht ist es ja eklig, und überhaupt gibt es ja noch das Märchen vom Leichengift … Ich bin Zeuge und sage Ihnen, bevor wir in den Raum mit dem toten Leib eintreten, was ich gesehen habe und wie es auf mich gewirkt hat. Aber wer kann Sie besser überzeugen von der Realität als Sie selbst? Das braucht Zeit und Raum. Vielleicht ist der erste Anblick tatsächlich erschreckend, weil sie fremd ist, aber nach ein paar Minuten des sich Einlassens und des ich Gewöhnens an eine einmalige Situation kehrt meist Frieden ein und ein Anerkennen dessen was ist. Wegbegleitung heißt an dieser Stelle, dass ich als ein Begleiter offen bin für alles, was die Zugehörigen jetzt tun möchten. Auch behalte ich das Ziel im Auge, dass am Ende, wenn wir vielleicht gemeinsam den Sarg geschlossen haben, alle Beteiligten ihren eigenen Weg gefunden haben den Toten und sein Leben, wie seinen Tod anzuerkennen und zu würdigen. Niemand weiß im Vorfeld genau was passieren wird bei dieser letzten Begegnung. Für Manche scheint die Situation trotz aller Umstände wie selbstverständlich. Andere sind sehr zögerlich. Jede Art der Annäherung ist in Ordnung. Manche brauchen viel Zeit, um die letzten Schritte bis hin zu ihrem Verstorbenen zu gehen, sie anzuschauen oder anzufassen. Andere stürmen hinein und nehmen die Hände und drücken ihm oder ihr einen dicken Kuss ins Gesicht. Im Vordergrund steht immer die Frage, was die Zugehörigen auf ihrem Weg unterstützen kann. Manchmal ist es gut sie für eine Weile allein zu lassen, manchmal brauchen sie die Sicherheit, die die Anwesenheit eines erfahrenen Menschen vermitteln kann, manchmal beides im Wechsel. Oft ist es ein Wechselspiel zwischen Ergriffenheit, einem sich einlassen auf die eigene Trauer, sich wieder distanzieren, handeln, sich wieder hinsetzen, weil man es kaum aushält. Am Ende ist der Sarg verschlossen und verbleibt im Raum. Die Angehörigen verabschieden sich mit einem eigenen Bild vom Sarg und wie ihr Verstorbener darin gebettet wurde – mit all den Gaben und Erinnerungsstücken die sie vielleicht mitgebracht haben. Dies ist ein ehrliches Bild, eine eigene Erfahrung, das den oft viel schrecklicheren Phantasien keinen Raum gibt.