Sterben

Die meisten von uns wünschen sich einen sanften Tod – einfach einschlafen und nicht mehr aufwachen. Dies ist jedoch den wenigsten vergönnt. Wir haben einen sehr starken Selbsterhaltungstrieb. Unser Körper, unsere Zellen möchten nicht sterben. Wir scheuen uns vor dem Unbekannten –  wir können Tod nicht einmal wirklich denken, wir haben Phantasien, Hypothesen, was sein wird – Himmel, Hölle, Nirvana, NICHTS – wissen tun wir es nicht.

Starke Schmerzen behindern die geistige Klarheit, die zumindest aus buddhistischer Sicht beim Übergang hilfreich ist. Starke Schmerzmittel tun dies aber wahrscheinlich auch. Hier sind besonders die Palliativmediziner gefragt, das richtige Maß zusammen mit ihren Patienten zu finden.

Sterben ist auf jeden Fall ein körperlicher Zerfallsprozess. In der Tradition des tibetischen Buddhismus wird der körperliche Sterbeprozess analog dem Zerfall der Elemente betrachtet. Dieser wird in dem Buch von Sogyal Rinpoche Das tibetische Buch vom Leben und Sterben wie folgt beschrieben:


1. Auflösung der Erde in Wasser

Körperliche Symptome: Gewichtsreduktion, Abmagerung, Blässe, Wangen fallen ein, Augen öffnen und schließen wird schwerer, Form löst sich auf, braune Flecken auf den Zähnen

Innere Wahrnehmung: Gefühl, zerquetscht zu werden, aufgewühlt sein, Delirium

Hilfe: Auf korrekte Lagerung achten, Bequemlichkeit, angemessene Ernährung, Gehhilfe und Rollstuhl zur Wahrung der Selbständigkeit, für positive Stimmung sorgen, Decke abnehmen, Waschungen, alles was beruhigt, Kissen erhöhen, gute Mundpflege

Bildliche Vorstellung: schimmernde Luftspiegelung


2. Auflösung des Wassers in Feuer

Körperliche Symptome: Kontrollverlust über Körperflüssigkeiten (Nase läuft, Urin und Kot nicht mehr kontrollierbar), Zunge wird starr, Mund und Rachen werden klebrig bis verstopft, Nasenflügel fallen ein

Innere Wahrnehmung: Empfindungsfähigkeit löst sich auf (schnelle Abwechslung von Hitze, Kälte, Lust, Schmerz), Geist wird unruhig, reizbar und nervös

Hilfe: Windeln, evtl. Katheder, Fliesunterlagen ins Bett, Befeuchtung von Lippen und Mund, Butter auf die Zunge streichen, Mundreinigung, alles was den Sterbenden beruhigt (Stille, Meditation, Gebet), Hand halten, Körperkontakt, Dasein, Auf- und Zudecken

Bildliche Vorstellung: Ertrinken im Ozean, Überschwemmung u.ä.


3. Auflösung des Feuers in Luft

Körperliche Symptome: Mund und Nase trocknen völlig aus, Verlust der Körperwärme (äußeres Erkalten), Verdauung versagt, Essen und Trinken ist unmöglich, kalter Atem, Blutergüsse

Innere Wahrnehmung: Sinnliche Wahrnehmung hört auf, Geist wechselt zwischen Verwirrung und Klarheit

Hilfe: Befeuchtung der Lippen, Stopp der Nahrungszufuhr, Ansprache, Gebet, Meditation, Dasein, Beruhigung, Abdecken trotz äußerlicher Erkaltung

Bildliche Vorstellung: Gefühl von innerer Feuerbrunst; Flammen, die verzehren; rot glühende Feuerfunken tanzen vor dem Sterbenden


4. Auflösung der Luft

Körperliche Symptome: Atem wird mühsamer, rasselnd, keuchend, Einatmen ist kürzer Ausatmen ist länger, Augen werden starr, rollen evtl. nach oben, völlige Bewegungsunfähigkeit, dreimaliges letztes Ausatmen (lang)

Innere Wahrnehmung: Der Intellekt löst sich auf -Verwirrung des Geistes, Außenwelt wird nicht mehr wahrgenommen

Hilfe: Spirituelle Begleitung, Atmosphäre des Friedens und der Liebe kreieren, zum Sterbenden ruhig reden, Gebet, Meditation, Kerzen, Blumen, Bilder, geistigseelisch an Frieden arbeiten

Bildliche Vorstellung: Visionen, Bilder entsprechend der eigenen Geisteshaltung; Bild eines inneren Wirbelsturms, der alles wegfegt; Fackel mit rotem Schein


Anmerkung

Der beschriebene körperliche Auflösungsprozess kann in kürzester Zeit ablaufen (bei Unfällen) oder sich über einen längeren Zeitraum (Tage, Wochen) hinziehen. Unmittelbar danach beginnt die innere, seelische Auflösung. In der tibetischen Tradition gebührt auch in dieser Phase dem Sterbenden unsere volle Achtsamkeit und Zuwendung. Es wird empfohlen, den Leichnam nicht zu berühren bzw. nicht zu bewegen (zum Waschen), da hierdurch der seelische Auflösungsprozess gestört werden könnte. Dieser dauert zwischen 20 Minuten und 3 Stunden. Der Sterbende erfährt in dieser Phase das Zusammentreffen von Himmel und Erde und bedarf unserer bedingungslosen Liebe und unseres grenzenlosen Mitgefühls.